Nun beginnt der Ernst des Lebens", hieß es
als ich in die Schule kam. Ich war eh nicht
gerade begeistert, dass ich nun, und dann
auch noch täglich, in so eine Einrichtung
gehen sollte. Denn meine gesamte Lebensplanung wurde
an diesem Tag mit einem Mal komplett über den Haufen
geworfen. Aber als es hieß, der „Ernst des Lebens“ würde
nun beginnen, da verlor ich komplett die Lust...
Solche Aussagen kennen wir doch alle, mehr oder
weniger: „der Ernst des Lebens …“.
Wir wissen einerseits nicht genau, was mit solchen Sätzen
so ausgelöst werden kann. Auf jeden Fall ist dies ein
Beispiel dafür, dass hier ein grundsätzliches
Missverständnis vorliegt, was Lernen, Bildung und was
Leben bedeutet.
Lernen ist kein Ernst, es ist ein ureigenes Bedürfnis des
Menschen, ein ureigenes Bedürfnis in der Natur. Lernen
macht Spass und passiert am allerbesten auf der Basis
von Freude.
Wir lernen immer. Der Lernprozess beginnt mindestens
schon nach der Befruchtung der Eizelle und den ersten
Teilungen der Zygote. Zellen differenzieren sich und
wandern an den für sie bestimmten Ort. Sie
kommunizieren unentwegt miteinander und
spezialisieren sich dabei. Es sind, wie alle Vorgänge in
der Natur, wundersame und geheimnisvolle, höchst
intelligente und aufs Feinste aufeinander abgestimmte
Vorgänge. Die Zellen wandeln sich zu Zellspezialisten,
verändern sogar ihr Äußeres und eignen sich ganz neue
Verhaltensweisen an.
Unentwegt lernt der Organismus hinzu, bis er aus ca.
einer Billionen Zellen besteht, die alle auf optimale Weise
miteinander kooperieren. Und auch dann gehen
Lernvorgänge weiter.
Wenn ein Mensch geboren wird, hat er schon eine breite
Palette an Erfahrungen gemacht und die
dreidimensionale Ultraschalltechnik hat ganz neue und
erstaunliche Einblicke in die ersten intrauterinen Monate
ermöglicht. Daher konnte man feststellen, dass der Fötus
schon ein komplexes Verhaltens-repertoire besitzt und
einübt, auf das das späteres Lernen aufbaut. Der Fötus
strampelt, gähnt, macht Atembewegungen, lächelt, reibt
sich die Augen, spielt, freut sich, hat Angst, untersucht
seine Umgebung, mach Kontakt, wenn ein Zwilling da
ist, oder will mal alleine sein und schiebt den anderen
weg. Außerdem ist er mit dem Empfindungssystem der
Mutter aufs Engste verbunden und nimmt die Außenwelt
schon war. Zum Beispiel, Stimmen und Musik.
Jede neue Lernerfahrung kann nur gemacht werden, weil
sie auf bestehende aufbaut. So entwickeln sich der
Mensch und seine Fähigkeiten vom einfachen zum
komplexen und vom organischen zum geistigen.
Bestimmte Erfahrungen und Lernschritte müssen in
bestimmten „kritischen Phasen" gemacht werden, wie
Sprechen, Gehen, Sehen, usw. Aber hier gibt es zwischen
den Menschen individuelle Toleranzbereiche.
Der Körper ist stets am Lernen beteiligt.
Genaugenommen ist er die Grundlage, damit kognitives
Lernen später überhaupt optimal stattfinden kann. So
weiß man zum Beispiel, dass Kinder, deren Motorik sich
nicht gut entwickelt hat und schlecht rückwärtsgehen
können, auch nicht „rückwärts" rechnen können. Das
heißt, Schwierigkeiten haben, zu subtrahieren.
Das Gehirn ist ein Wunderwerk, das niemals stillsteht
und sich stets verändert, umstrukturiert und anpasst. Die
wichtigste Aufgabe des Gehirns ist nach Gerald Hüther,
und nun werden sich viele wundern, nicht das Denken!
Sondern das lebenslange Herstellen, Aufrechterhalten
und Gestalten von Beziehungen. Beziehungen zwischen
Neuronen, das Herstellen von Verbindungen über
Synapsen und die stetige Abbildung der laufenden
Prozesse im gesamten Organismus. Von einfachen
Regelkreisen zu komplexen Systemen.
Eine der wichtigsten Orte, die Lernen ermöglichen, sind
Synapsen. Die Stellen, an denen Reize biochemisch
weitergegeben werden. Und diese Erfindung in der
Natur war revolutionär. Damit ermöglichte sie dem
Nervensystem sich permanent durch Bildung neuer
Verbindungen zu vernetzen, Kontakte zu anderen
Nervenzellen herzustellen und hinzuzulernen. Unser
Gehirn verfügt über 10 hoch 15 Synapsen. Das sind eine
millionen Milliarden.
Es sollten bei uns doch davon noch ein paar
funktionstüchtig sein oder? Im Übrigen ermöglicht das
Gehirn damit weitaus mehr Verbindungen als es Atome
im Universum gibt! Damit müsste doch etwas
anzufangen sein oder nicht?
Verbindungen, die häufiger genutzt werden, werden zu
Wegen und aus Wegen werden Straßen und aus Straßen
werden Autobahnen. Das nennt man Lernen, es ist aber
auch gleichzeitig eine Form der Spezialisierung. Wird
eine „Straße“ nicht mehr oder weniger genutzt, dann
baut das Gehirn diesen „Weg“ ab. Auch stellt Lernen dar
oder eine Form der Anpassung. Das Gehirn ist niemals
inaktiv, es baut sich permanent um und passt sich den
Gegebenheiten an. Wenn wir nicht lernen, dann lernt
unser Gehirn allerdings schon. Es lernt, dass eine Sache
nicht mehr wichtig ist. Daher Lernen wir immer.
Sie selbst können jedoch entscheiden, ob Sie mehr daran
interessiert sind, neue Verbindungen zu entwickeln oder
bestehende zu erhalten oder ob Sie sich mit ein paar
Datenautobahnen begnügen.
Ein paar Faktoren sind ganz fundamental wichtig für das
Lernen:
Ohne Kommunikation kein Lernen. Ohne Beziehung
keine Kommunikation. Ohne Gefühl keine Beziehung.
Aber schon Einzeller kommunizieren miteinander und
tauschen Erfahrungen aus. Sei es durch Botenstoffe, DNA
oder ganze Zellkerne, die sie austauschen. Lernen
passiert stets auf der Basis von Beziehungen und beim
Menschen, ganz wichtig, auf der Basis wertschätzender
Beziehungen. Wird Lernstoff mit Druck und Angst
vermittelt, dann verbindet sich das Gelernte mit diesen
negativen Gefühlen. Man weiß aus der Gehirnforschung,
dass Neuronen, die gleichzeitig angesprochen oder
aktiviert werden, sich auch miteinander verknüpfen. Es
heißt: „neurons that fire together wire together"! Und ein
negatives Ergebnis wollen wir doch nicht erreichen, oder?
Effektives Lernen findet also in einer stressfreien
Umgebung am besten statt. Permanenter Stress in der
Kindheit verändert zudem das Erbgut nachweislich.
Die Verbindung zwischen Fühlen und Lernen ist eine
weitere wichtige Erfindung der Evolution. Sie macht den
Menschen zwar verletzlich und anfällig, sie ermöglicht
aber auch gleichzeitig die optimale Anpassung an eine
Umgebung oder ein Umfeld. Das Fühlen ist eine weitaus
größere Gabe als das Denken. Wir entscheiden zudem
auch viel mehr über das Gefühl als über das Denken.
Allerdings wurde das Denken im Abendland zum
allerhöchsten Gut gekürt und das Gefühl als
„Gefühlsduselei" abgewertet.
Als nächstes wollen wir uns dem Wundern zuwenden.
Wer sich wundern kann und das Staunen nicht verloren
hat, der bleibt ewig jung. Das Wundern und Staunen, was
Kinder so gut können, sind die Basis für Offenheit. Wer
offen ist, nimmt wahr, nimmt auf, ist sensibel. Das
Staunen weckt die Sinne und die Gefühle und bringt den
Menschen in einen Zustand der vorbehaltlosen
Wahrnehmung.
Aber was ist, wenn wir meinen, alles schon zu kennen
und zu wissen?
Wir glauben heute, alles zu wissen und alles scheint
erklärbar zu sein. Warum dann noch wundern? Wir
stellen kaum noch Fragen, wir suchen vielmehr nach
Antworten. Wer Fragen stellen kann und nicht gleich
nach Antworten sucht, der ist ein Forscher, ein Pionier.
Wer auf alles eine Antwort hat, ist entweder Politiker
oder ignorant. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, dann ist
es eigentlich ja nur unsere Unsicherheit und das
Machtstreben, das uns dazu bringt, immer auf alles eine
Antwort haben zu müssen, sich keine Schwäche
einzugestehen. Aber Kinder staunen und fragen
unentwegt: warum, warum, warum?
„Das Schönste, was wir erleben können, ist das
Geheimnisvolle.
Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht
mehr staunen kann,
der ist sozusagen tot
und sein Auge ist erloschen." (Albert Einstein)
Knut Diederichs, 17.10.2013
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Wir lernen immer -
und dürfen das Staunen nicht vergessen
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